Wir sind in Telskuf eingetroffen, dem Zielort unserer Reise.

Nachdem wir den Peschmerga-Stützpunkt problemlos passiert haben, sowohl Sylvia Wähling als auch Scheikh Zedo Baedri sind im Ort bekannt und gerne gesehen, haben wir unser Quartier bezogen.

Unsere Gastgeber sind nicht vor Ort. Das Haus gehört einer Familie, die beim Ansturm des IS die Schlüssel einem Bekannten übergab und nach Australien emigriert ist. Das Anwesen wirkt stattlich, ist von hohen Mauern umgeben. Nachdem ich mich in meinem Zimmer häuslich eingerichtet habe, begebe ich mich auf die Dachterrasse.

Mein Blick schweift über die Dächer, in den Gärten blühen Orangenbäume, verströmen ein angenehmes Aroma. Einige Fassaden sind noch von Einschusslöchern übersäht, die Stromversorgung wird von  knatternden Generatoren gesichert, wobei Stromausfälle zum Alltag gehören.

Telskuf ist nicht nur von den vier Peschmerga-Checkpoints abgesichert, sondern zusätzlich von einer Anzahl an Stützpunkten, erkennbar an den kurdischen Fahnen, die in den Weiten der Ninive-Ebene errichtet wurden.

Ich versuche mir zu gegenwärtigen, wieviel Ströme von Blut in der jüngeren Vergangenheit hier geflossen sind. Meine Gedanken werden unterbrochen. Am Himmel wird ein amerikanisches Bombengeschwader sichtbar, wahrscheinlich auf dem Weg in das Innere des Irak, zu einer der US-Basen.

Seit 40 Jahren taumelt der Irak von einem Krieg zum nächsten. Ein wahrer Abgrund tat sich allerdings auf, als im Sommer 2014 aus der Ninive-Ebene eine militante Horde auftauchte, die zunächst einen islamischen Staat in Irak und Syrien proklamierte, um ihn dann unter der Bezeichnung „Islamischer Staat“ auf die ganze islamische Umma auszudehnen.

Von nun an erzitterte der gesamte Orient vor einem Prediger, der unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi fungierte, dessen geistige Autorität von Marokko bis nach Indonesien reiche sollte. Innerhalb kurzer Zeit, in einer Art Blitzkrieg, erwies sich dieser IS seinen militärischen Gegnern als weit überlegen. Bestehend aus jenen „Grünen Legionen“, deren Kämpfer ihr blutiges Handwerk, gespeist von Geldern aus Saudi-Arabien -dem engen Verbündeten des Westens- auf den Schlachtfeldern des internationalen Dschihad von der Pike auf erlernt hatten.

Die größten militärischen Erfolge erzielte der IS nicht weit von Telskuf, als die zweitgrößte Stadt des Irak, die Metropole Mossul, nur etwa 30 Kilometer von meinem Aussichtspunkt entfernt, im Sturm erobert wurde. Von Mossul aus etablierte der Pseudo-Kalif al Baghdadi, der ab sofort nur noch im schwarzen Turban des Kalifen auftrat, ein zusammenhängendes Territorium über die geschliffenen Staatsgrenzen hinweg, die einst Irak von Syrien trennten –und in der sowohl Jesiden als auch Schiiten von der Ausrottung bedroht waren, während Christen ein Leben auf unterster sozialer Stufe und permanenter Diskriminierung drohte.

„Vor zwei Jahren konnten wir von hier aus noch die Detonationen hören“, bestätigt Peter Chris Bürger, einer der Mitstreiter von Sylvia Wähling, der sich nun zauf die Terrasse begeben hat. Bürger ist  schon einige Tage zuvor aus Deutschland angereist. Der Chemnitzer hat sich eine Zigarette angezündet “Das war bei der Rückeroberung der Stadt vom IS“, fügt er hinzu.

Bürger, der in den letzten Jahren häufig zu Gast in Telskuf war, führt weiter aus. “Vor dem Angriff des IS lebten 10.000 Menschen hier. Fast die gesamte Bevölkerung, die fast nur aus Christen besteht, floh in den Nachbarort Alqosh, den ihr ja gestern besucht habt.“

Chris Bürger fasst dann zusammen, wie knapp die Hälfte der ehemals 10.000 Einwohner seit der Befreiung der Ninive-Ebene durch die Peschmerga-Truppen im Herbst 2016 wieder zurückgekehrt ist, um in ihrer angestammten Heimat ihr Leben zu bestreiten. Sukzessive werden die Häuser wieder aufgebaut und verdeutlichen, dass die Christen auch in den muslimisch dominierten Irak gehören.

“Die Ninive-Ebene ist seit mehr als zwei Jahrtausenden ein überwiegend von Christen dominiertes Gebiet, das seine ethnische und religiöse Vielfalt von Christen, Jesiden und Muslimen nicht aufgeben darf.“ äußert Peter Chris Bürger, während er seine Kippe löscht.

Bürger lädt zu einem Besuch der Baustelle an der 800 Jahre alten St. Jakob Kirche ein. Zu Fuß gehen wir durch den Ort in Richtung der alten Kirche. Im kleinen Stadtzentrum herrscht reges Treiben. Die ausländischen Besucher werden von den Einheimischen sehr freundlich aufgenommen.

Das Menschenrechtszentrum Cottbus e.V  unter der Leitung von Sylvia Wähling, ein Verein dem vorwiegend ehemalige politische Gefangene der DDR angehören, Peter Chris Bürger zählt auch dazu, hilft finanziell die St. Jakob Kirche zu sanieren. Es gibt viel zu tun. Drei Freiwillige, zwei junge Männer aus Berlin, sowie ein muslimisch-kurdischer Flüchtling, der in NRW lebt, haben dieser Tage ganze Arbeit bei der Restauration geleistet. Patrick, ein junger Mann aus dem Szene-Bezirk Friedrichshain, dessen größter Wunsch es war, sich vor Ort für kurdische Belange zu engagieren, führt mich durch die Baustelle, deren Umgebung einer Trümmerlandschaf gleicht, teils hervorgerufen durch die Kriegshandlungen, teils durch den Zahn der Zeit.

Nur wenige Meter entfernt steht das neue Jugendzentrum kurz vor seiner feierlichen Eröffnung. Sylvia Wähling dekoriert die nagelneuen Räumlichkeiten, inklusive Bar und Billardtischen, mit Weihnachtsschmuck. Dieses Gebäude wurde von der chaldäischen Diaspora-Gemeinde, zusammen mit dem Cottbuser Menschenrechtszentrum finanziert.

Am Abend der  feierlichen Eröffnung platzt das Jugendzentrum aus allen Nähten. Die gesamten Honoratioren der Stadt sind anwesend, neben feierlichen Reden werden Turniere in Billard und Tischtennis ausgetragen, wobei Vasilis Diamantis, der griechische Juwelier, der in seiner Jugend ein preisgekrönter Billardmeister war, die Geschenke gesponsert hat, welche auf einem Art Gabentisch präsentiert - und von den Jugendlichen sehnsuchtsvoll begutachtet werden. “Dieser Ort soll eine Anlaufstelle für das soziale Leben in Telskuf werden, denn neben mangelnder Sicherheit und Einkommen, sind fehlende soziale Aktivitäten ein häufiger Grund, warum junge Leute in Städte abwandern, oder gleich ins Ausland gehen“ begründet Sylvia Wähling das Engagement vor Ort.

Bezüglich der Restauration der St. Jakob Kirche gibt sie zu bedenken: “Kirchen sind für die Christen im Orient identitätsstiftend. Für die Menschen im Irak, die schon so lange von Krieg und Terror heimgesucht werden, ist die Sanierung einer Kirche ein Zeichen von Hoffnung. Unser Traum ist es, nächstes Jahr Weihnachten in der St. Jakob Kirche feiern zu können, so wie wir dieses Jahr in der chaldäisch-katholische Kirche St. Georg die Messe zelebrieren, die im neuen Glanz erstrahlt. Es ist das erste wiederaufgebaute Gotteshaus nach der Zerstörung durch den sogenannten „Islamischen Staat“".

Diese Kirche befindet sich gleich gegenüber vom Jugendzentrum und war beim Einmarsch durch den IS schwer zerstört worden. “Damals waren IS-Parolen unter anderem auf Deutsch an die Wände geschmiert“, erinnert sich Chris Bürger.

Der Heiligabend beginnt mit einem Wetterwechsel. Es ist kalt geworden, kalt und nass. Auf Anregung und Initiative von Patrick, dem Freiwilligen aus Berlin, macht sich die Gruppe auf, die Peschmerga in den Checkpoints von Telskuf mit Weihnachtsgeschenken zu überraschen. “Diese Männer haben nicht nur den IS vertrieben, sondern beschützen auch seit Jahren die Stadt“ äußert Patrick.

„Als Dank dafür erhalten Sie von uns die Geschenke, unter anderem Essen und einen Teppich – denn an einem weiteren Checkpoint müssen sie auf dem Boden schlafen.“ Die kurdischen Kämpfer reagieren sehr erfreut und bereiten uns in ihren spartanischen Unterkünften einen herzlichen Empfang.

Viele dieser Männer standen gegenüber den IS-Truppen in direkten, blutigen Kampfhandlungen. Die meisten Soldaten stammen aus verschiedenen Regionen der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, die flache Landschaft der Ninive-Ebene -mit ihren christlich-aramäischen Bewohnern- ist ihnen eigentlich fremd. Die Checkpoints, die mit dem Bild des Präsidenten Barzani und den kurdischen Flaggen ausgestattet sind, stellen auch so etwas wie einen Gebietsanspruch gegenüber der Regierung in Bagdad dar, von der man sich in Erbil immer weiter emanzipiert. Vasilis Diamantis ehrt die Peschmerga, von denen viele Muslime sind, mit Kreuzen, die er speziell für diesen Aufenthalt angefertigt hatte.

Als der Chef der gemischt religiösen Gruppe auch für sich und seine muslimischen Kollegen ein Kreuz forderte, wird das von allen Seiten mit großer Freude registriert. Der Oberst berichtet, während der obligatorische Tee gereicht wird, dass die IS-Kämpfer mit fanatischer Todesbereitschaft kämpften und dass deren Waffenarsenal von Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten finanziert wurde.

Auch bei diesen Peschmerga, diesen kurdischen Kämpfern, die dem Tod immer wieder in die Augen blicken, wird Unverständnis darüber geäußert, weshalb der Westen unter der Führung der USA  mit diesen Staaten paktiert. Die Peschmerga zeigen mir bereitwillig ihre Waffen, neben den obligatorischen Kalaschnikows auch ein paar Panzerfäuste und Schnellfeuerwaffen.

Die schiitische al-Haschd asch-Schaʿbī Miliz, die nur fünf Kilometer entfernt stehen soll, aber unsichtbar erscheint, sei auf jeden Fall viel besser bewaffnet, wird betont. Niemand der Anwesenden hat Zweifel daran, dass diese Miliz von der Regierung in Bagdad entsandt wurde, um eines Tages den Kurden die umstrittenen Gebiete des Nordirak abspenstig zu machen.

Wir verabschieden uns. Über der Ninive-Ebene liegt jetzt ein Nebel-Dunst und taucht die Landschaft in eine düstere Agonie. Der Weihnachtsgottesdienst an diesem Heiligen Abend wird allerdings in jener liturgischen Pracht entfaltet, die dem orientalischen Christentum zu eigen ist und welche in Europa - durch den Tanz um das goldene Kalb - längst abhanden kam.

In der St. Georg Kirche werden die Sitzplätze knapp. Die anwesenden Gäste, es scheint der ganze Ort zugegen, darunter viele ehemalige Bewohner der Stadt, die längst im Ausland leben, sind festlich gekleidet. Eine feierliche Stimmung macht sich breit, der Gottesdienst wird in Aramäisch abgehalten, während draußen vor der Tür die Peschmerga mit entsicherten Gewehren den Schutz der Weihnachtsfeier garantieren, ohne dabei ihren Blick von der in Dunkelheit versunkenen Ninive-Ebene abzuwenden, von dort, wo vor einigen Jahren wie aus dem Nichts die Truppen des IS auftauchten, wie eine Geißel.

Während die Gläubigen in der Kirche wieder in einen ihrer Gesänge einstimmen, fällt mir die Frage des Peschmerga-Oberst von heute Vormittag wieder ein: “Weshalb paktiert der Westen mit Staaten wie Saudi-Arabien und den Emiraten, mit deren Geldern doch die Waffen des IS finanziert wurden und werden?“

Das Menschenrechtszentrum Cottbus e. V. unterstützt gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte die Menschen in Kurdistan-Irak. Spenden - Menschenrechtszentrum Cottbus e.V.

HIER geht es zum ersten und HIER zum zweiten Teil des Reiseberichts.

Beitrag senden

Drucken mit Kommentaren?



href="javascript:print();"